Wir leben in einer berührungsarmen Zeit. Das ist zunächst eine bedauerliche Tatsache, und zugleich birgt sie eine große Chance für eine Heilung und Gesundung – allerdings nur, wenn wir sie als Gesellschaft mutig ergreifen.
Was ist so besorgniserregend an der weit verbreiteten Berührungsarmut?
Dass ein Kind beruhigende Berührungen braucht, um zu überleben, gilt als wissenschaftlich bewiesen. Inzwischen wird klar, dass dies auch für Erwachsene gilt. Die regulative Kraft der Berührung ist gut erforscht: Ob Immunsystem, Muskelspannung, Verdauung, Schmerzempfindlichkeit oder die hormonelle und psychische Stabilität – das einwandfreie Funktionieren dieser Aspekte des menschlichen Lebens hängt von regelmäßigen, sanften Berührungen untereinander ab. Die Empfindung von Sicherheit und Wertschätzung durch Berührung ist eine der stärksten Antworten auf Angst, Anspannung und die ungesunde Überflutung durch Stresshormone.
Das Bedürfnis nach Verbundenheit mit anderen Menschen wird besonders dann relevant, wenn wir in schwierigen Lebenssituationen landen. Bei Trennungen, Trauerfällen, dem Verlust vom Arbeitsplatz und Krankheiten haben wir ein erhöhtes Bedürfnis nach verbalem und nonverbalem Zuspruch.
Oft plagt ein noch nicht geheiltes Trauma im Hintergrund – dies ist vor allem durch Anspannung und eine erhöhte Stressbereitschaft des Körpers zu merken.
Über Einsamkeit und Berührungsarmut
9 Milliarden Menschen, ein kleiner Planet und so viel Einsamkeit …
Man müsste weit ausholen, um die wichtigsten Ursachen von Einsamkeit zu beleuchten. Was jedoch nicht zu leugnen ist: Einsamkeit macht krank und verursacht höhere Kosten als Rauchen, mangelnde Bewegung und Übergewicht zusammen. Unter anderem wegen dieser hohen Kosten beschäftigt sich aktuell die Bundesregierung mit diesem Phänomen. Kürzlich wurde eine 74-seitige Regierungserklärung dazu veröffentlicht. Bedauerlicherweise wurde das Thema Berührung darin nicht ein einziges Mal erwähnt. Für mich ist das ein ernüchterndes Zeugnis dafür, wie körperentfremdet unsere politischen Entscheidungsträger scheinbar sind.
Wir brauchen eine neue Berührungskultur!
Viele Menschen halten ihren Körper mittlerweile öfter fit mit Sport als in den 80ern. Und auch im Bereich Ernährung wird immer mehr auf gesunde Inhaltsstoffe geachtet. Dass die Haut jedoch nicht nur als Schutz dient, sondern auch als mächtiges Kontaktorgan für uns als soziale Wesen wirkt, braucht noch ein viel größeres Bewusstsein. Wie wohltuend, heilsam und lebensverändernd eine regelmäßige Berührung wirkt, können zum Glück immer mehr Menschen in Deutschland erfahren.
Die neue Berührungskultur wird zum Beispiel bei Tanztreffen (barfuß und ohne Alkohol) wie Biodanza, DanceTribe oder auch dem 5-Rhythmen-Tanz zelebriert. Oder auf Kuschelpartys, die es in immer mehr Städten gibt. Aber überall gilt: Wir gehen achtsam miteinander um. Keiner soll sich überfordern. Es ist alles freiwillig. Niemand muss sein „Nein“ erklären. Die uns allen innewohnende Verletzlichkeit und Verbundenheit ist jene universelle menschliche Ebene, auf der wir uns auch als Fremde begegnen können. Denn das Wichtigste haben wir gemeinsam: Das Bestreben, nicht abgeschnitten zu sein von anderen, sondern immer wieder Nähe zu erfahren, und dies nicht nur mit Worten, sondern auch körperlich.
Tipps für mehr Berührung im Alltag:
Wie setzen wir diese neue Berührungskultur alltäglich um? Ich möchte dir ein paar ganz konkrete Impulse mitgeben, wie du mehr berührst und berührt wirst. Ohne Zwang. Ohne Angst. Aber mit allen Vorteilen, die mit Berührungen untereinander einhergehen.
Werde dir deines Bedürfnisses nach Halt und Geborgenheit bewusst und erlaube es dir, seine Erfüllung wichtig zu nehmen.
Scanne dein unmittelbares Umfeld nach Menschen, denen du vertraust. Falls du feststellen solltest, dass es diese nicht gibt, solltest aufmerksam werden: Ist dein Umfeld sehr unglücklich gewählt? Oder brauchst du vielleicht Unterstützung von Coach:innen oder Therapeut:innen, um dein Innenleben soweit zu heilen, dass du neu vertrauen kannst?
Gibt es Menschen, denen du vertraust? Kannst du niedrigschwellig auf sie zugehen und darum bitten, dir eine Umarmung zu schenken? Zum Beispiel kommst du bei der Arbeit an und sagst zu deiner Lieblingskollegin „Ich fühle mich noch ganz zerknittert von einer unruhigen Nacht. Kannst du mich bitte einen Moment lang in den Arm nehmen?“ Eine solche offene Frage wirkt zunächst ungewohnt, doch diese Scheu kann sich schnell legen.
Bemerkst du manchmal in deinem Umfeld Menschen, denen es nicht gut geht? Du könntest auf sie zugehen und zum Beispiel folgendes Angebot machen. „Mensch, tut dein Zahn immer noch weh? Magst du eine kleine Umarmung? Nach sechs Sekunden soll sie schmerzstillend sein!“ oder „Kann es sein, dass du gerad traurig bist? (Antwort abwarten und wenn „ja“) Ich würde dich gerne in den Arm nehmen – magst du?“
Bestärkt von der positiven Resonanz auf deine Anfragen und Angebote, könntest du dich auch mal zum Kuscheln verabreden. Du könntest zu einem Freund z. B. sagen: „Ich finde das so wohltuend, wenn wir miteinander reden. Aber ich merke, wie ich auch ein Bedürfnis habe, unsere Freundschaft platonisch körperlich zu leben. Was hältst du davon, wenn wir bei unserem nächsten Treffen, es ausprobieren, 20 Minuten (unerotisch) zu kuscheln, einfach nur so, um den anderen zu spüren und nicht allein zu sein? Ich habe gelesen, dass das sehr gesundsfördernd sein soll!“
Probiere eine der o.g. Veranstaltungen aus – grade die Großstädte bieten so einiges.
Fazit und ein Appell an mehr Berührung
„Wir brauchen vier Umarmungen am Tag, um zu überleben. Wir brauchen acht Umarmungen am Tag, um uns selbst zu versorgen. Wir brauchen zwölf Umarmungen am Tag, um erwachsen zu werden.“ Dieses Zitat stammt von Virginia Satyr – einer der weltweit bekanntesten Familientherapeut:innen.
Wie viele Umarmungen hast du in deiner Kindheit bekommen? Waren es genug? Hast du genug Trost und Zuspruch bekommen? Die eigenen Berührungsbiografie zu sichten und zu reflektieren, inwieweit diese noch heute Einfluss nehmen könnte auf den Umfang deines heutigen Bedürfnisses nach Halt und den Umgang damit – das ist meine dringende Empfehlung auf dem Weg zur Heilung und einem guten Miteinander.
Mit kuscheligen Grüßen,
Alexandra
Hallo, Alexandra. Danke für diesen Text. Ich möchte ihn gern auf meiner Facebook-Seite teilen. Ich habe aber zwei Tippfehler entdeckt:
9 Milliarden Menschen, ein kleiner Planet uns so viel Einsamkeit
Und auch im m Bereich Ernährung
Lösch diesen Kommentar dann gern wieder.