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Kuscheln im Ernst (?)

Aktualisiert: 20. Feb. 2022

„Kuscheln“ hört sich niedlich an – und beschreibt gleichzeitig etwas so immens Wichtiges, dass es aller Ernsthaftigkeit bedarf. Ich möchte mich hier einigen Aspekten dieses Themas widmen.


Das ist doch natürlich

Wenn ein Baby oder ein Kind schreit und es nicht auf dem Arm eines geliebten Menschen ist, wollen wir es instinktiv trösten. Und wenn wir nicht einschreiten können, wird den meisten von uns ganz mulmig vor lauter Ungerechtigkeitsemfinden, Wut und Ohnmachtsgefühlen. Wir sind von der Natur so erschaffen worden, dass wir uns kümmern möchten. Mit sanften Worten UND mit Berührungen.


Wenn ein dementer Mensch ganz orientierungslos und verzweifelt in Tränen ausbricht und das „wo, warum und wer“ nicht versteht, reagieren erfahrene Pfleger und Therapeuten instinktiv mit beruhigenden Berührungen und sanften, einfachen Worten.

Doch was ist mit den Menschen zwischen dem Zeitpunkt des Auszugs aus dem Elternhaus und dem Einzug in ein Seniorenheim?

Also mit uns?


Bedürftigkeit ist zu verstecken

Ist für uns die körperliche Berührung und herzliche zwischenmenschliche Zuwendung etwas, was sein kann aber nicht muss? Wer ohne Partner lebt, keine Kinder hat und wenige, eher körperlich reservierte Freunde, der hat Pech gehabt/vielleicht etwas „falsch“ gemacht und muss damit klarkommen?

Mit diesen selbstbeschämenden Gedanken schlagen sich nicht wenige von unseren Klienten in der Kuschelpraxis rum. Da steht auf der einen Seite ein heftiges Bedürfnis nach Halt und Geborgenheit und auf der anderen Seite so etwas wie eine Stimme unserer Gesellschaft, die wohl nicht nur eingebildet ist. Sie rät, sich zusammenzureißen, mal was zu unternehmen, Yoga zu machen, zu meditieren, einen guten Ratgeber zu lesen, spazieren zu gehen usw. Der Gedanke ist hierbei, dass doch sicherlich dieses Bedürfnis nach nährenden Berührungen mit anderen Erlebnissen zu ersetzen sei.

Doch das stimmt einfach nicht!

Es handelt sich hierbei schlicht um einen Mangel ganz ähnlich dem Nährstoffmangel.

Bringt es uns um, wenn wir die meiste Zeit zu wenig Vitamin D oder B12 in unserem Körper haben? Nein. Aber wir leiden an mehr oder weniger unspezifischen Symptomen, die weitreichend die Lebensqualität beeinflussen.

Bringt es uns um, wenn wir die meiste Zeit keinen körperlichen Halt und zarte Berührungen bekommen? Nein. Doch es ist zu beobachten, dass Menschen, denen es so ergeht, zu depressiven Gedanken neigen, an Selbstwertgefühl verlieren, sich immer weniger zutrauen, sich zurückziehen und sich selbst vernachlässigen. Und dass eine solche Grundstimmung krank macht, ist uns inzwischen klar.


Depression verkürzt das Leben.

Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass wir unser ganzes Leben lang streichelnde Berührungen brauchen. Vor ca. 15 Jahren wurden auf über 80% unserer Haut spezielle Rezeptoren entdeckt – die C-taktilen Nervenfasern – die einzig und allein dafür zuständig sind, unserem Gehirn zu melden, dass wir gestreichelt werden. Und das mit etwas, das 32 °C warm ist und ca. 3 cm pro Sekunde langsam ist – also einer durchschnittlichen Streichelbewegung einer Hand. Unser Gehirn schüttet daraufhin Botenstoffe aus, die für Muskelentspannung und Glücksgefühle sorgen.

Ein Wissenschaftler aus Berlin (Prof. Dr. Müller-Oerlinghausen) hat eine anerkannte Studie in einer Psychiatrischen Klinik mit depressiven Patienten durchgeführt, aus der hervorgeht, dass eine sanfte, streichelnde Massage (hier wurde die psychoaktive Massage angewandt) mehr Erfolge bei der Behandlung bringt, als alle chemischen Helfer zusammen. Und dieser Herr ist Pharmakologe!


Wir brauche alle körperliche Unterstützung

Unsere Gesellschaft bringt nicht wenige Menschen hervor, die ein Leben ohne herzliche Berührungen führen. Und sie bringt noch mehr Menschen hervor, die zwar zeitweise Zuwendung bekommen, jedoch gerade dann, wenn sie sich klein und unsicher fühlen, sich damit niemandem zumuten wollen. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Da gibt es den erfolgreichen Mann, dessen Frau und Freundeskreis in seinen Augen schockiert und überfordert wäre, wenn er ihnen zeigen würde, wie sehr er sich manchmal Halt wünscht. Oder die junge Mutter, die zwar viel Geborgenheit schenkt, jedoch viel zu oft alleine ist und sich ihrem Mann, der sich auch erst einmal in der Vaterrolle einfinden muss, nicht zumuten mag. Oder der sensible junge Mann aus einer dörflichen Gegend, wo zwischen Disko und Saufen manchmal nur wenig Platz ist für Feingefühle.


Das Thema „sich jemandem zumuten“ gehört oft als Bestandteil einer therapeutischen Kuschelsitzung dazu. Es berührt mich zutiefst, dass so viel Scham und Staunen über sich selbst entsteht, wenn die Menschen spüren, dass sie sich so intensiv nach einem starken Arm und „gehalten werden“ sehnen.

Und das am liebsten ohne komplizierte Beziehungsarbeit.

Damit ist gemeint, dass man immer (schon auf der biologischen Ebene) mit jemandem eine Beziehung eingeht, in dessen Armen man liegt. Bei einem Kuscheltherapeuten geht ein Klient davon aus, dass dieser auf sich selbst gut achtet, aus absolut freien Stücken diese Arbeit leistet und dazu ausgebildet ist, die Gefühle des Klienten gut intergieren zu können. In einer normalen Kuschelsituation findet natürlich sehr wichtige Beziehungsarbeit statt. So kann es sein, dass das an sich sehr beruhigende Kuscheln in eine sexuelle Phase übergeht oder aber auch in einen Streit. Denn die Nähe fördert das Bedürfnis, sich mit seinen Ängsten anzuvertrauen. Und das kann wiederum den anderen überfordern. Es ist also nicht ganz sicher, wie das Kuscheln endet – was natürlich auch ganz wunderbar ist, denn das Leben ist einfach spannend!


Jedoch Menschen, die sehr wenige oder eher belastende Beziehungserfahrungen gesammelt haben, sehnen sich einerseits umso mehr nach bedingungslosem Halt

und sind auf der anderen Seite oft besonders unsicher im Bezug auf zwischenmenschliche Nähe. Ihnen allen wünsche ich, dass sie einen sehr einfühlsamen, zärtlichen, verständnisvollen und geduldigen Weggefährten finden! Und solange sie einsam sind, wünsche ich ihnen vom ganzen Herzen, dass sie zu ihren Bedürfnissen stehen und sich gut um sich kümmern. Ob Bonding, Biodanza, psychoaktive Massage oder unsere Kuschelpraxis – es gehört viel Mut und Ehrlichkeit zu sich selbst dazu, um initiativ zu werden.

Dafür haben sie meinen größten Respekt!


Alexandra Ueberschär (42) hat die therapeutische Leitung der ersten Kuschelpraxis Deutschlands. Sie bietet Einzelsitzungen und Gruppenevents an.

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